Das Ratsgymnasium am Bielefelder Nebelswall ist eine Bildungseinrichtung, die sich kontinuierlich über sieben Jahrhunderte hinweg in ungebrochener Tradition zu einem altsprachlichen Gymnasium von ausgezeichneter Reputation entwickelte. Dies ist eine These, doch dafür gibt es gute Gründe. Das Wichtige ist dabei, daß die Tradition nie gebrochen wurde, auch als die schule sich mit der Zeit in den Jahrhunderten veränderte. Ausgehend von dieser Annahme steht unser liebes Ratsgymnasium in direkter Nachfolge der im 13. Jahrhundert gegründete Lateinschule, die an das Stift der gräflich-ravensbergischen Marienkirche angegliedert war. Nur die Rechtsform und die Trägerschaft haben sich demnach geändert, die Tradition blieb.
Im Laufe des 13. Jahrhunderts fand in der Grafschaft Ravensberg ein deutlicher Auf- und Ausbau der Herrschaftsstruktur statt. Mit Stadtgründung auf dem „bilivelde“, dem Bau der Burg, Errichtung der Neustadt und Gründung des Marienstifts ging ein vergrößerter Bedarf an Verschriftlichung der bestehenden und neuen Rechte und Pflichten in der Grafschaft einher. Aus diesem Grunde wurde ein Scriptorium benötigt, die Zahl der Notare mußte erhöht werden. Die Gründung einer gräflich-ravensbergischen Lateinschule, die an eine kirchliche Einrichtung angegliedert wurde, war die logische Antwort auf den steigenden Bedarf an qualifizierten Notaren für die gräfliche Verwaltung sowie an Stiftsherren und Priestern.
Aus dem Jahre 1293 ist eine Gründungsurkunde für eine dem Landesherrn verbundene „schola“ in Bielefeld überliefert. Nach allem, was wir wissen, war es – schon aufgrund der Angliederung an das Stift der Neustädter Marienkirche – eine Lateinschule. Das ist eine bedeutsame Information, denn hier beginnt die Geschichte einer Schule, die, wie im Folgenden gezeigt werden wird, nahtlos zum heutigen Ratsgymnasium wurde.
Schon sehr bald nach der Gründung der Neustadt Bielefeld, mit der zugleich die Nordflanke der Burg gesichert wurde, hat es hier eine Bildungseinrichtung gegeben. Als das gräfliche Marienstift als Residenzstift im Schutze der um 1250 zu einer nennenswerten Festung erweiterten Burg Sparrenberg gegründet worden war, bedurfte es deren Erneuerung oder Erweiterung. In dieser auf die neuen Ansprüche zugeschnittenen Bildungseinrichtung wurden die in Stift und Stadt benötigten Qualifikationen in lateinischer Sprache und in anderen Fächern an Schüler vermittelt. 1295 wird der bereits bei der Gründung des Stifts genannte und die Schulaufsicht führende Kanoniker „Scholaster Sintram“ abermals in einer Urkunde genannt.
Echt jetzt: 1293?
Die These von der Stiftung einer Lateinschule in Bielefeld im Jahre 1293 widerspricht der 1828 erstmals vom Lehrer Christian Dietrich Schaaf geäußerten und seit spätestens 1908 vorherrschenden Meinung, dass das Ratsgymnasium erst ab dem Jahre 1558 als bestehend nachweisbar sei. Hier befinden wir uns in einer dezidiert preußisch-militaristischen Traditionslinie, in der nur lutherische Bildung für voll genommen und katholische Gelehrsamkeit als „pfäffisch“ diskreditiert wurde. Die Jahreszahl 1558 ist willkürlich, wie weiter unten gezeigt wird, das Gründungsdatum 1293 basiert hingegen auf einer zweifelsfrei echten Urkunde.
Betrachten wir die Sachlage von der anderen Seite: Ist die Annahme berechtigt, das Stift an der Neustädter Marienkirche habe den Bedarf an Theologen ausschließlich durch Auswärtige gedeckt, die ihre Schulbildung in anderen Städten genossen hatten? Das wäre höchst unüblich gewesen. Die Quellenlage legt vielmehr nahe, dass es sich bei der unstrittig seit 1293 am Stift der Marienkirche angesiedelten Schule keinesfall um eine „Trivialschule“ oder „Elementarschule“ handelte. Einen schriftlichen Beleg für den Lehrplan gibt es nicht, aber es ist auch keine an einem Kanonikerstift angesiedelte schule bekannt, die Latein ausgespart hätte.
Zur Feststellung des grundsätzlichen Sachverhalts, dass es in Bielefeld eine Lateinschule gab, reichen die erhaltenen Akten und die Literatur völlig. Eine erkleckliche Zahl von Studenten des 14. und 15. Jahrhunderts stammt beispielsweise ausweislich einschlägiger Universitätsmatrikel „de Bilefelde“. Dass sie alle ihre Lateinkenntnisse an einer anderen Lateinschule erworben hätten, ist denkbar, aber unwahrscheinlich. Die Bielefelder Lateinschule wurde zudem mit klevischer Hilfe Mitte des 16. Jahrhunderts erweitert; ihre Versorgung wurde vom Landesherrn gemeinsam mit der Stadt vertraglich gesichert. Dies ist aufgrund der im Düsseldorfer Hauptstaatsarchiv liegenden Ravensberger Aktenbestände eine quellenmäßig relativ gut gesicherte Epoche für die Geschichte der Schule.
Studenten mussten damals Latein können
Die Studenten, die aus Bielefeld kamen, verdienen unser besonderes Interesse, denn anhand ihrer Schulbildung ergeben sich Rückschlüsse auf die Bielefelder Lateinschule. Drei von ihnen waren schon früh an der Universität von Bologna immatrikuliert. Es handelt sich dabei um Johannes von Brinke und einen weiteren Johannes, der mit dem Namenszusatz „de Bileveldia“ geführt wird. Die Urkunde ist im Bielefelder Urkundenbuch erhalten. Auch Bernhard, der spätere Graf von Ravensberg, wird im Jahre 1303 auf diese Weise erwähnt. Er begann sein Studium an der Universität Bologna; in das Immatrikulationsregister trug er sich als „Bernardus comes de Ravensperg“ gegen eine Gebühr von „3 libras“ ein. Er wird 1304 erneut genannt, als die Prokuratoren eine hohe Summe für einen Ulricus de Erenberg von ihm in Empfang nahmen. Die Annahme, dass der spätere Graf Bernhard von Ravensberg nicht nur einer der ersten, sondern auch einer der bedeutendsten Schüler der Stiftsschule – des heutigen Ratsgymnasiums – gewesen ist, scheint durchaus gerechtfertigt.
Die alte Stiftsschule, also das heutige „Rats“, nur noch nicht städtisch getragen, lag in der Stifts-Immunität am Papenmarkt, in der Neustadt. In diesem vom Ravensberger Grafen und der Kirche gleichermaßen errichteten Bereich herrschte mit der Stiftsgründung 1293 nicht nur symbolisch, sondern konkret und von beiden garantiert der Rechtszustand des innerstädtischen Friedens. Dieser Stiftsimmunität war der städtischen Jurisdiktion entzogen, der „Marktfrieden“ des direkt unterhalb der Marienkirche beginnenden Papenmarktes war darin eingeschlossen. Und ebenso der Schutz für die gräfliche Lateinschule, das heutige „Rats“.
Nichts war falsch an den Feierlichkeiten von 2008
Das Ratsgymnasium Bielefeld hat im Jahre 2008 sein 450jähriges Bestehen gefeiert. Wie passt das zum Stiftungsjahr 1293? Besser, als auf den ersten Blick zu sehen ist! Am großen Jubiläumsfest ist schon deswegen gar nichts falsch, weil an die lutherische Tradition erinnert wurde – wenn auch nicht mit einem belastbaren Datum. Doch auch wenn die 450 Jahre durchaus als ein stolzes Alter bezeichnet werden können, darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass für 1558 keine Gründungsurkunde der Schule bekannt ist, sondern dass dieses Datum lediglich das Inkrafttreten des verschriftlichten Vertrags mit einem neuen Rektor – unbestritten in Nachfolge vieler früherer Rektoren – wiedergibt. 1558 trat auch eine Änderung in der Trägerschaft ein: der Rat engagierte sich ab jetzt finanziell, das wurde gleich mitverbrieft. Weniger geschah nicht, mehr aber auch nicht. Die dezidiert preußisch geprägten Lehrer wollten das Jahr 1558 als Zeitpunkt der Einführung des Luthertums sehen. Es ging also um eine spezielle, gewollte Deutung der Tradition. Als Grund zum Feiern konnte das wohl gelten – warum auch nicht?
Über alledem sollte aber der Blick auf das Wesentliche nicht verlorengehen. Für die Jahre ab 1293 sind eine große Zahl von Urkunden und anderer Regesten erhalten, die das Bestehen einer Schule, die zum Besuch einer Universität direkt befähigte, immer wieder bestätigen. Daraus ergibt sich logisch, dass die Bielefelder Lateinschule erstens zweifelsfrei ab 1293 auf Dauer Bestand hatte und dass sie zweitens bruchlos zum heutigen Ratsgymnasium wurde.